Willensfreiheit – Illusion oder Wirklichkeit?
Warum wir wirklich frei sind und es uns nicht gibt
„…der die Welt so bunt malt, obwohl es ihn nicht gibt“ H. v. Veen
von Florian Weingart
Die Frage nach der Willensfreiheit ist mehr als nur ein altes Problem der Philosophie, es ist eine Grundfrage menschlicher Existenz. Ist unser Wollen und Handeln schicksalhaft vorherbestimmt, oder moderner ausgedrückt, durch Gene und Umwelt bestimmt, oder sind wir fähig zu wirklich freien unabhängigen Entscheidungen? Dieser Aufsatz strebt eine kurze und allgemeinverständliche Antwort an, ohne unangemessen zu vereinfachen. Er wird dabei aufzeigen, dass die Eingangsfrage das Grundproblem nicht zutreffend beschreibt. Auf einen Abriss der Philosophiegeschichte und eine Erläuterung der Begriffe, Diskussionsstränge und Seitenwege bis in die Gegenwart wird bewusst verzichtet. Es soll vielmehr der Versuch unternommen werden, diese so elementare Frage für das Selbstverständnis aller Menschen ausgehend von der Perspektive unserer persönlichen Welterfahrung zu erörtern.
Wenn wir in Abwesenheit äußeren Zwanges handeln, erfahren wir uns darin als frei. Wir trinken einen Tee oder doch lieber einen Kaffee, kaufen jenes Buch aber nicht die leckere Schokolade, wählen die richtige Partei und schließen bebenden Herzens den Bund fürs Leben. Jede dieser Handlungen und deren damit verbundene Entscheidungen sind Willensakte. Es gibt Entscheidungen, die wir als rein rational wahrnehmen und solche in denen unsere Emotionen oder triebhafte Aspekte offen dominieren. Den gesunden Menschen begleitet dabei trotzdem stets das Bewusstsein möglicher Handlungsalternativen und die grundsätzliche Vorstellung auch anders entschieden haben zu können. Solches Wollen erleben wir daher vor uns selbst als frei gewollt. Hätten wir jedoch tatsächlich anders wollen können? Analysieren wir unser Verhalten selbst, oder wird unser Verhalten Gegenstand einer Untersuchung von außen, so können wir oft so viele äußere Ursachen einzelner Entscheidungen finden, dass die Freiheit, derer wir uns eigentlich sicher waren, nun fraglich erscheint. Auch Erkenntnisse der Neurowissenschaften unterstützen diese Zweifel.
Ist deshalb unser Freiheitsempfinden im Willensakt nur eine Illusion? Ist der empfundene freie Vollzug unserer selbst eine Täuschung? Dazu sollten wir zunächst einmal grundsätzlich klären, warum wir uns eigentlich frei fühlen im Vollzug unseres Willens. Die Antwort ist dem Hauptgrunde nach überraschend einfach, obwohl ihr Gegenstand große Tiefe hat und trotz seiner Nähe kaum verstanden ist. Wir fühlen uns frei, weil wir Personen sind, das heißt mit höherem Bewusstsein ausgestattete Lebewesen. Ein solches Einzelbewusstsein muss sich durch Grenzen von dem bzw. den Anderen sondern. Es ist sogar nur denkbar und erfährt sich nur durch Abgrenzung von der Umwelt. Physisch erfahren wir uns zum Beispiel in den Grenzen unseres Körpers. Das personale Bewusstsein konstituiert sich an und innerhalb seiner körperlichen und mentalen Grenzen. Unser Ich-Bewusstsein ist somit der Wahrnehmungsraum innerhalb dessen alles diesem Ich zugeordnet wird, während hinter dem Horizont das Fremde liegt. Zweifellos können wir viele auf uns einwirkende Ursachen der Außenwelt erforschen und in großer Vielzahl wissen, jedoch ist die Bewusstseinsgrenze als Identitätsgrenze für unser waches intaktes Bewusstsein in ihrer Totalität unüberwindlich. Man kann sich nur zwei Möglichkeiten denken: Erstens, wir werden uns einiger Determinanten (außerhalb von uns liegender Ursachen unserer Entscheidungen) bewusst, dass erschüttert aber offensichtlich nicht existentiell das Bewusstsein unseres Selbst, unser Identitätsgefühl als Träger unseres Willens. Zweitens, wir erweitern - wie auch immer - unser Bewusstsein als Ganzes über seine bisherigen Grenzen hinaus. Damit würden alle neu im vergrößerten Horizont unseres Bewusstseins liegenden Determinanten darin integriert. Aus ihnen würden damit, durch die verlagerte Grenze wiederum weitgehend abgeschnitten vom Bewusstsein ihrer Ursachen, automatisch sozusagen autonominale Ursachen, im Entscheidungsprozess Gründe genannt.
Der Wille ist eine Funktion des Bewusstseins, man könnte ihn als bewussten fortlaufenden Gesamtvollzug unseres Selbst bezeichnen. Im Spiegel dieses Bewusstseins ist der Wille notwendig eine ursachelose Erscheinung, da er seiner Ursachen nicht über die Bewusstseinsgrenze hinweg gewahr sein kann. Zumindest nicht in einer seine subjektive Wirklichkeit aufhebenden, dekonstituierenden Weise. Das Gefühl der Freiheit ist daher unhintergehbar. Innerhalb des Bewusstseinshorizonts sind wir autonom - immanent eigengesetzlich. Subjektiv sind wir durch die Bewusstseinsgrenze indeterminiert. Unser Wille ist daher so frei wie das Bewusstsein unserer Selbst wirklich ist. Willensfreiheit und personales Bewusstsein sind die zwei Seiten einer Medaille. Willensfreiheit ist ein integraler Bestandteil des Ich-Bewusstseins, nicht „bloß ein Gefühl“ sondern sie ist die Erfahrungsrealität, die Wirklichkeit unseres Selbst.
Interessant ist dabei, dass die Willensfreiheit nicht eine grenzüberschreitende, transzendente Eigenschaft von Personen ist, sondern im Gegenteil ein durch die Grenzen des Bewusstseins demselben innewohnendes Wesensmerkmal. Die klassische Metaphysik ist also eigentlich eine „Physik des Bewusstseins“. Die Existenz bedeutet mithin für ein höheres Bewusstsein, sich als ein begrenztes, eigenständiges, losgelöstes und frei wollendes Wesen im Universum zu erleben. Was man sowohl als gottferne Verlassenheit, wie als schöpferische Möglichkeit erfahren kann. Die Wirklichkeit des Erlebens unseres Selbst und die Wirklichkeit unserer Freiheit sind koexistent und entwickelten sich parallel zueinander. Je höher das Bewusstsein entwickelt ist, je komplexer und leistungsfähiger die Bewusstseinseinheit ist, umso stärker sind Identität und Freiheit ausgeprägt. Die nach unseren heutigen Vergleichsmaßstäben hohe Komplexität und lange Entwicklungsgeschichte des menschlichen Bewusstseins und seiner vermuteten physischen Grundlage, des Körpers, entziehen die Ursachen, also die äußere Bedingtheit seines Werdens weitgehend unserer unmittelbaren Erfahrbarkeit. Bedingtheit und Werden unseres So-Seins, ja unser So-Sein selbst sind für uns selbst und auch den Mitmenschen unüberschaubar und undurchschaubar, geradezu eine Black-Box. Billionen neuronale Verknüpfungen bilden der Welt gegenübergestellt ein eigenes Universum der Ursachen und Gründe. Das Output auf ein bestimmtes Input ist nicht bzw. nur mit Unschärfe berechenbar. Die Freiheit des Willens ist aber nicht nur dieses Nicht-Wissen von Ursachen sondern komplementär dazu vor allem ein konstitutives Wissen um uns selbst. Die Freiheit des Willensaktes bestätigt sich uns in dem selbstreferentiellen Abgleich mit unserer Identität. Die Konsistenz unserer Willensakte und deren Kongruenz mit unserem Bild von uns selbst bestätigt uns ihre ungezwungene persönliche Freiheit. Die Determination des Willensaktes durch unsere Persönlichkeit unterstützt damit –folgerichtig und nicht etwa paradoxerweise- unser Gefühl der Freiheit in diesem Willensakt. Währenddessen verliert sich aber das Wissen um die zeitlich vorausgehenden Ursachen der Determination unserer Persönlichkeit weitestgehend in der Bewusstseinsbarriere. Für die Wirklichkeit als Person gilt daher: Sein ist gleich frei sein, Unfreiheit des Willens wäre gleichbedeutend mit: Nicht-Sein. Folglich ist die Aussage: „Der Mensch (als Subjekt, als Person) hat keinen freien Willen“ in sich widersprüchlich, weil sie keine einzelne Eigenschaft des Subjektes negiert sondern die Subjekthaftigkeit, das Person-Sein selbst. Freiheit und personales Bewusstsein bedingen sich gegenseitig existentiell. Es ist daher eine irreführende und nicht zutreffende Aussage von der Freiheit des Subjektes als Illusion zu sprechen oder wie die Philosophie auch sagt, die Freiheit als Konstruktion des Subjektes zu bezeichnen. Eher würde es dann schon stimmen, das Subjekt an sich als freiheitliche Konstruktion zu bezeichnen, aber der Begriff der Konstruktion ist hier im Ganzen irreführend. Als Subjekt sind wir a priori frei, denn wir haben die Willensfreiheit hergeleitet als Immanenz der Freiheit im Subjekt. In der Interaktion der Subjekte, als soziale Wesen erfahren wir unser Gegenüber als bewussten Sprecher und als Spiegelung unserer selbst und schreiben uns dieselbe Autonomie wechselseitig zu.
„Das ist ja ganz schön mit dieser unhintergehbaren Freiheit“, wird nun ein Kritiker sagen, „aber das ist doch keine Freiheit im Sinne der Ausgangsfrage. Wenn wir gedanklich diese kleine Blase des Bewusstseins verlassen, sehen wir da nicht, dass das Lebewesen Mensch mit all seinen tollen Gedanken letztlich vollkommen determiniert ist? Egal was dieses Bewusstsein von sich selbst weiß, seine Wirklichkeit ist doch nicht mehr als eine winzige, endliche und relative Struktur im Universum. Wir sind doch, auch wenn das Bewusstsein, wie Du beschreibst, es selbst nicht zu erfahren vermag, schon wegen unserer Endlichkeit notwendig verursacht und determiniert durch zeitlich vor uns liegendes.“ Er oder Sie meint also, was nützt uns die absolute subjektive Freiheitserfahrung, wenn wir von außen, objektiv betrachtet, womöglich gar nicht frei sind? Tatsächlich liegt hier das Problem der Ausgangsfrage. Wir haben eine existentielle Freiheit des Subjektes hergeleitet, die nicht davon abhängt ob wir objektiv frei im Sinne von objektiv indeterminiert in unseren Entscheidungen sind. Die Wirklichkeit unserer Freiheit ist an das Bewusstsein geknüpft und darin beschränkt. Das besagt ja der Satz der Immanenz der Freiheit im Bewusstsein ebenfalls. Wir dürfen aber in der Diskussion nicht vergessen, dass eine jenseitige Determination dem Bewusstsein daher auch nicht als Unfreiheit erfahrbar ist. Sie besitzt keine subjektive Wirklichkeit im Sinne einer auflösenden Wirkung auf unser Bewusstsein und unsere Freiheit. Es ist daher ein schwieriges Gedankenexperiment die objektive Sicht überhaupt einzunehmen und man muss fragen, was ist in diesem Sinne für den Menschen überhaupt eine objektive Wirklichkeit?
Wir wollen versuchen diese Perspektive tatsächlich einzunehmen: Denken wir uns einen allwissenden Betrachter der auf den Kosmos herabschaut und diesen als endloses Netzt sieht, gewebt aus unendlich vielen sich überkreuzenden Fäden an denen Perle für Perle, Ereignis für Ereignis das Geschehen der Welt aufgereiht ist. Ich persönlich sehe es als Denknotwendigkeit an, dass dieser allwissende Betrachter eine lückenlose Abfolge von Ursache und Wirkung sähe, philosophisch gesprochen eine streng determinierte Natur. Alles andere würde nämlich ursachelose Erscheinungen, Schöpfungen aus dem Nichts voraussetzen. Das ist aber für diese Überlegungen nicht ausschlaggebend. Davon unabhängig sähe nämlich der allwissende Betrachter zwar die Lebewesen in ihrem komplexen Aufbau, aber keine Personen in unserem Verständnis, denn die Grenzen des Bewusstseins würden sich vor seiner Allwissenheit auflösen. Eine Eigengesetzlichkeit bzw. Autonomie des Willens könnte er gar nicht sehen, weil er die Entfaltung des einzelnen Lebewesens als ungeschiedenen Teil der determinierten Gesamtentwicklung des Universums wahrnähme. Daher kann es aus dieser Perspektive keinen freien Willen geben, recht verstanden gar keinen Willen: Der allwissende Geist sieht kein Handeln sondern nur Geschehen im Universum. Die für uns existentiellen Grenzen des Bewusstseins sind, wie schon gesagt, für ihn im kausalen Fluss des Geschehens gar nicht vorhanden. Somit hätte auch der Subjektbegriff als Träger des Willens für diesen Betrachter gar keine Bedeutung. Kurz zusammengefasst: Subjekt und Wille sind in wahrhaft objektiver Betrachtung irrelevante Kategorien. Objektiv gesehen gibt es keine Subjekte. Unsere bewusste Existenz könnte er nur indirekt anhand gewisser Eigenschaften wie des Komplexitätsgrades unseres Gehirns erschließen, oder zum Beispiel anhand unseres Sprechens von uns selbst. An diesem Turing-Test würden wir jedoch auf ewig scheitern, denn er hörte uns nicht nur wie die Computerstimme SIRI sprechen sondern sähe daneben unseren Programmcode ablaufen. Dieser Betrachter sähe die Puppe mit allen Fäden an denen sie aufgehängt ist. Das bedeutet aber eine Perspektive deren Vermögen uns letztlich unvorstellbar ist, die wir hypothetisch annehmen und theoretisch denken können, die aber kein natürliches Wesen einnehmen kann. Daher ist dieser „objektive“ „Betrachter“, in unseren denkerisch und sprachlich limitierten Ausdrucksformen notgedrungen als Subjekt, als „er“, „sie“ oder auch „es“ bezeichnet, nur hilfsweise zu fassen. Das bedeutet aber nicht, dass diese Perspektive unbedeutend ist, im Gegenteil. Im ersten Teil hatten wir festgestellt, dass wir subjektiv gesehen objektiv frei sind. Nun sehen wir, dass es uns als Subjekt objektiv gesehen gar nicht gibt.
Skurriler Weise ist dieses objektive Weltbild, allgemein als naturwissenschaftliches Weltbild bezeichnet, ein transzendentes, das Bewusstsein (und seine Freiheit) übersteigendes und eliminierendes. Der gedachte objektive Betrachter ist eine Hypothese. Ich habe keinen Zweifel daran, dass diese Betrachtungsweise konsequent zu denken auch außerordentliche wichtige Konsequenzen für unser Selbstbild als Mensch hat, in einer geradezu spirituellen Dimension. Wird unser Dasein dadurch sinnlos? Vor allem sind wir doch letztlich Sklaven des Weltenlaufs weil Freiheit und Bewusstsein eine gemeinsame Illusion sind? Spannend, denn wer oder was stellt dann diese Frage? Wer könnte sich seine nicht-seiende, bewußtseinslose objektive Existenz vorstellen? Und warum sind bewusstseinserweiternde oder richtiger bewusstseinserlöschende Erfahrungen dieser Transzendenz dann eher positiv, also die Empfindung ungetrennter Teil von Allem in Allem zu sein laut der Erfahrungsberichte einiger Menschen ein Glückserlebnis?
Es wird uns aber auch klar, dass wir als Subjekte zu einer objektiven Betrachtung insbesondere anderer Personen nicht oder selbst mit äußerster Anstrengung nur fragmentarisch in der Lage sind.
Viele Gespräche über die Willensfreiheit verstricken sich in den Unzulänglichkeiten unserer Sprache und der zugrundeliegenden Denkmuster. In einer tatsächlichen umfassenden Objektperspektive erlischt nicht nur das beobachtete Subjekt sondern auch das beobachtende Subjekt– eigentlich. In unserer Unvollkommenheit angesichts der Komplexität des Gegenstandes bleiben wir jedoch auch als Beobachter stets Teilhaber und sehen auch stets noch die Person. Die Determination erfassen wir nie als Ganzes sondern nur je Teilaspekte, aus denen wir auf das Ganze schließen, aber die Wahrnehmung als Ganzes bleibt uns notwendigerweise versagt. Willensfreiheit ist ein prinzipielles Nichtwissen-Können das unlösbar verknüpft ist mit dem Wissen um uns selbst. Versuchen wir es mit einem Bild. Der Mensch sei eine Marionette. Sie läuft, denkt und spricht. Wenn also diese an ihren Fäden aufgehängte Puppe plötzlich alle diese Fäden erkennt, ihnen mit ihrem Blick nach oben folgt zur Hand des Puppenspielers und dann in den Augen des Puppenspielers ihren eigenen Willen erkennt, hört sie auf zu sein. Die vollkommene Erkenntnis Puppe zu sein löscht ihre bisherige personale Existenz aus bzw. verschmilzt sie mit dem Puppenspieler (Universum). Ein totales Bewusstsein aller determinierenden Bedingungen unserer Selbst würde die Auslöschung des Ich bedeuten, da mit der völligen Entgrenzung automatisch ein größeres, am Ende ein universelles, kosmisches Bewusstsein entstünde – ein göttlicher Dämon, der keine Person ist, der von sich nicht als Ich sprechen kann in Abgrenzung von einem Wir, sondern der Alles in Allem ist. Dann aber ist auch die Rede von der Unfreiheit des Willens sinnlos, denn dieser Dämon wäre im Bewusstsein seiner selbst die totale Macht im Universum, absolut frei. Das Bewusstsein ist also der göttliche Funke, der „ex nihilo“, aus dem Nichts Freiheit erschafft. Wüssten und erinnerten wir alles, also wirklich alles, dann wären unser Wollen und Handeln das Geschehen im Universum. Das ist die Allmacht Gottes, des „unbewegten Bewegers“, des Schöpfers.
Als Lebewesen mag der Mensch objektiv determiniert sein, als Person ist er subjektiv frei und BEIDES GILT, wie wir nun sehen ohne widersprüchlich zu sein, gleichzeitig. Daher ist das Entweder-Oder der Eingangsfrage nicht richtig weil es die unterschiedlichen Bezugssysteme nicht beachtet. Der Mensch kommt meines Erachtens nach erstaunlich gut mit dieser sogenannten Dualität der Perspektiven zurecht, zum Teil aus Ignoranz, zum Teil aber auch weil sie konform geht mit seinem geläufigen Weltverständnis. Unser Platz in der Welt wird nicht zerrüttet, sondern im Gegenteil fundiert, erklärt und der Autor hegt die Hoffnung, womöglich sogar bereichert. Gegenüber den Menschen ist uns ein totaler objektiver Standpunkt gar nicht möglich, denn eine Auflösung der Personalität wäre eine so umfassende Entgrenzung, die ohne weiteres uns als Beobachter ebenfalls verschlucken würde in die Welt um uns herum, es würde die Sinnhaftigkeit allen Sprechens in Kategorien von Subjekt und Objekt auslöschen. Eine objektive Perspektive oder ein völlig entgrenztes Ich hätten auch kein Ich-Bewusstsein, folglich verschwände die Freiheit mit dem Subjekt des Freiseins, mit dem Subjekt des Betrachters und dem Subjekt des Betrachteten, im Nichts. Ist das Nirwana? Andererseits sind uns Aspekte der Objektperspektive natürlich stets bewußt – neben der unhintergehbaren kontinuierlichen Erfahrung der Subjektperspektive läuft stets unsere kognitive Ursachenanalyse mit. Unsere alltägliche Welterfahrung ist also eine Subjektperspektive mit objektiven Fragmenten.
Von unserem jetzt erstiegenen Aussichtsturm haben wir womöglich neue Ausblicke auf spirituelle und religiöse Transzendenzerfahrungen der „Bewusstseinserweiterung“. Dieses Panorama hilft uns vielleicht Bedeutung und Sinn der Spiritualität für unsere menschliche Existenz zu ahnen – aber er ist noch keine Methode zu ihrer Erfahrung. Am ehesten führt es zu rationaler Demut und Respekt vor jahrtausendealten Erkenntnissen. Denn was wissen wir schon über das individuelle menschliche Bewusstsein, sein Zustandekommen und seine Gesetzmäßigkeiten? Philosophisch gesprochen ist das hier vorgestellte Modell ein essenzmonistischer Kompatibilismus, denn ich sehe eine strenge Naturdetermination widerspruchsfrei verknüpft mit einem substantiell freien Subjekt. Dieses Ergebnis soll am Ende noch kurz in Bezug zu Menschenbild und Ethik gesetzt werden. Für den Kompatibilismus ist die Frage der Verantwortung für unser Handeln kein Problem wie für den harten Deterministen. Verantwortung ist nicht nur eine Zuschreibung aus gesellschaftlicher Notwendigkeit, sondern erwächst auch unmittelbar aus der Freiheitlichkeit des Subjektes. Wir können nicht zugleich die Würde als Person beanspruchen aber die Freiheit und damit die Verantwortung für uns als Person zurückweisen. Verantwortung ist eine verpflichtende, positive, annehmende Haltung zu uns selbst, die letztlich unserem –oben dargelegten- natürlichen Selbstempfinden als handelndem Subjekt entspricht. Sich der Verantwortung willentlich zu entledigen ist konsequent gedacht nur über eine Selbstentmündigung, über eine Aberkennung unserer personalen Qualitäten denkbar. Man kann aber schlecht das eine ablehnen aber gleichzeitig weiter als Person argumentieren. Vermutlich wäre ein Verantwortungskonzept auch als reine Zuschreibung, als „Konstruktion“ denkbar, aus der allgemeinen Einsicht in die Notwendigkeit für eine funktionierende gesellschaftliche Ordnung. Die erfahrene Willensfreiheit der Subjekte einer Gesellschaft ist jedoch der Zement, die von innen heraus bindende Kraft eines immanenten Verursachungs- respektive daraus erwachsenden Verantwortungsgefühls, die diese gesellschaftliche Ordnung letztlich zusammenhält. Dennoch ist auch die objektive Determination im Naturgeschehen alles andere als irrelevant für die Ethik. Einerseits im Verständnis für das Handeln der anderen und im Konzept von Strafe. Wir müssen das objektiv, notwendig Gewordene des Anderen berücksichtigen in unserem Konzept von Schuld und Vergeltung – das Werden und Sosein des Menschen kann dadurch auch sinnvoll in Begriffen wie Schicksal, Gnade oder Fluch verstanden werden. Allerdings dürfen wir unser Gegenüber, womöglich in bester pädagogischer und menschenfreundlicher Absicht nicht entmündigen. Es geht vielmehr um die Anerkennung der Tatsache, dass unsere Chancen nicht gleich verteilt sind und wir uns daher vor moralischen Verurteilungen hüten müssen. Auf der anderen Seite erleben wir auch selbst einen Zwiespalt, ein Hadern mit unserem Schicksal, wenn uns Determinationen unseres Selbst bewusst werden. Wir verstricken uns in „schuldhaftes“ oder bedauernswertes Verhalten aus der Notwendigkeit heraus, einer Unvermeidlichkeit, die uns sehr bewusst sein kann und uns nur zu leicht hadern und verstocken lässt in unserem Schicksal. In keinem Protagonisten der Weltliteratur ist das umfassender angelegt und eindringlicher geschildert als im Parzival des Wolfram von Eschenbach, einer Art christlichem Entwicklungsroman des Mittelalters. Aber das wäre ein neues Thema. Vielleicht hilft uns die Sicht auf die Gegebenheiten unserer Willensfreiheit zu einer Befriedung mit unserem Dasein und Sosein, zu Langmut und Gelassenheit mit uns selbst und den anderen.
Dieser Artikel ist Ergebnis einer 30jährigen, sporadischen, immer wieder aufflammenden Beschäftigung und Begeisterung für das Thema der Willensfreiheit. Einen besonderen Schub in der Weiterentwicklung meiner Vorstellungen verdanke ich der umfassenden differenzierten Darstellung Michael Rosenbergers in seinem Buch „Determinismus und Freiheit“ (WBG Darmstadt, 2006). Darüber hinaus durfte ich einige Unklarheiten unmittelbar mit Herrn Prof. Rosenberger per Mail klären und dank seiner freundlichen Kritik diese Arbeit verbessern. Vielen Dank! Dieser Artikel gibt meine persönliche Meinung und meinen begrenzten Erkenntnisstand im Frühjahr 2019 wieder.